Herr H.
Herr H. ist Schweizer geworden, um seinen Vermögen vor dem deutschen Fiskus zu retten. Das hat er mir selber gesagt. Er hat sich in einer renommierten Skistation ein überdimensioniertes Chalet bauen lassen und dabei systematisch jeden Handwerker tyrannisiert. Der Fliesenleger musste die Küche acht Mal neu belegen, um Herrn H.’s manischen Anforderungen zu entsprechen. Die Dachrinne wurde in Handarbeit aus Eichenholz geschnitzt und ein Block Marmor so aufgeschnitten und verlegt, dass man die Zeichnung der Venen ohne Unterbrechung, in perfekter Kontinuität versetzen konnte. Jede kleinste Ecke dieses Chalets verzierten Kunsthandwerker unter den akkuraten Blicken des Besitzers, Stück für Stück. Malerei, Skulptur, Ornamentik, Glaskunst, Stuckaturen.
Als Herr H. sich aber entschloss, seine gewöhnlichen Badezimmer-Möbel zu verzieren, roch sein Hausmaler Gefahr und schob mir den Auftrag mit einer kurzen Beschreibung des Kunden, zu.
Herr H. holte mich am Bahnhof in einem luxuriösen Mercedes ab. Ihm schwebte eine Steinintarsien-Imitation vor. Es folgte eine lange Korrespondenz. Ich zeichnete Entwürfe, er schickte sie korrigiert zurück. Mehrmals trafen wir uns, bis seine Wünsche erfüllt waren. Als ich zu malen begann, sass Herr H. wie versteinert hinter mir auf dem Klo und beobachtete mich drei Tage lang. Die Stunden verstrichen und ich fragte mich, ob seine Tyrannei Handwerkern gegenüber ein Weg ist, seine Einsamkeit zu bekämpfen. So machte er mir weniger Angst.
Ein Jahr später liess er mich wieder kommen, um eine hochkomplexes Ornament mit hauchdünnen Linien auf Grobverputz zu entwerfen. Ich lehnte mit der Ausrede „Zeitmangel“ ab. Wir tranken Kaffee und er erzählte mir von seiner erfolgreichen Karriere als Inhaber einer Fabrik in welcher Kupferfässer herstellt wurden.
Jahre verstrichen.
Unerwartet kontaktierte mich Herr H. erneut. Wieder holte er mich am Bahnhof ab. Er hatte sich verändert. Bei ihm zu Hause angekommen, bot er mir Kaffee und Kuchen an. Auf dem Tisch lag ein dickes Heft. Er habe angefangen über sein Leben zu schreiben und las mir Ausschnitte daraus vor. Etwas befangen hörte ich zu und überlegte, was das genau mit einem Malauftrag zu tun haben könnte. Herr H. legte das Heft zur Seite und fing an zu weinen.
Er erklärte mir, dass er sein Gedächtnis verliere und dass er grosse Angst davor hatte. Er versuche, schneller als die Krankheit zu sein und seine Memoiren zu schreiben. Nochmals nahm er das Heft zur Hand und las mir aus seiner Jugend vor. Als Fünfzehnjähriger wurde er in die Hitlerjugend eingezogen. In einem Bombenflugzeug leistete er als Radarsoldat Dienst. Bei unzähligen, meist nächtlichen Angriffen auf alliierte Ziele war er dabei, die Hosen voll von Angst. Er sah viele seiner Kameraden sterben. Nach Kriegsende kam Hunger und Not über das zerbombte Deutschland.
Ich sass in dieser überfüllten, überdekorierten Stube und beobachtete, wie aus dem grauen, schweren Himmel dicke Schneeflocken fielen.
Herrn H. habe ich nie mehr gesehen. Er ist gestorben.